Periodische Systeme…
Aufklärung? Muss lachen: Niente! Eine gewisse Aufklärung erhielt ich von meiner Cousine zweiten Grades. Sie redete von Blut. Natürlich hatte ich nie damit gerechnet, dass es mich selber treffen könnte, doch als es mich dann doch traf – lief ich zu meiner Mutter. Die würde es schon wissen, egal wie schlecht unser Verhältnis war. Mutter schaute befriedigt drein, war bestimmt froh, dass ich nun auch zur verklemmten Frau reifte.
Sie drückte mir ein paar dünne Teile in die Hand, sagte: „Leg das unter!“ – und: „Dein Vater hat es nie bei mir gesehen!“
So bekam ich auch gleich eine Einstellung dazu.
Dummerweise fuhren wir am gleichen Tag zu Besuch in die ferne Exheimat...
Ich sitze im Auto wie auf heißen Kohlen – oder wie auf dünnen Binden.
Bei einer Pinkelzwischenstation im Wald stelle ich fest, dass die Binde voll durchgeblutet ist. Ich schmeiße sie weg und leg mir eine neue "unter".
In der Heimat angekommen: Ich gehe sofort aufs Klo, ich blute immer noch wie ein abgestochenes Schwein, die Binde ist Kacke, ich fühle mich voll Scheiße, verdammt, hab’ ich sie falsch rum untergelegt? Oh ja, ich bin so dämlich! Es klopft, mein Onkel, er ist der Cousin meines Vaters und nur ein Jahr älter als ich, will mich sehen. Ich erinnere mich an seine Konfirmationsfeier vor einem Jahr, etwas Günes schwebt mir im Kopf herum:
Ich vierzehn Jahre alt in weißer Bluse und einem blauen Samtrock, den Mutter genäht hatte. Da war noch ein anderer Junge, ich will nicht sagen junger Mann, aber er war groß und zurückhaltend, also attraktiv. Da ich zu dieser Zeit immer die Schönste im Dorf war - vermutlich weil ich aus der Großstadt kam und weil sogar Zwerge in der Dämmerung lange Schatten werfen – zeigten sich die Jungs sehr interessiert an mir.
Also ging ich mit „Onkel“ und dem anderen Jungen, der übrigens auch aus dem Ruhrgebiet kam, in die Dorfkneipe. Sie lag schön versteckt hinter dem Haus, uneinsehbar und fast leer. Majestätisch stand die Wirtin Marianne hinter der Theke. Maid Marian – fast jeder im Dorf hatte einen Spitznamen – war genau das Gegenteil von dem, was man sich unter der zarten Geliebten von Robin Hood so vorstellte. Sie hatte eine Figur wie ein Fass, trug eine schlecht gemachte furchtbar krause Dauerwelle und hatte obendrein noch eine ausgesucht hässliche Brille auf der Nase, die ihr Spitzmausgesicht noch spitzmausiger machte und ihre Raubvogelaugen stark vergrößerte. Aber sie war eine nette Person, welche gerade ihren üppigen Operkörper über den Tresen gehängt hatte, um den bis dato einzigen Gast zu bezirzen. Seltsam, dass man sich an so Einzelheiten erinnern kann, während viel wichtigere Dinge einfach im Nirvana des Gehirns verschwunden sind.
Es wurde lustig. Maid Marian hatte keinerlei Bedenken, uns Schnaps aus- bzw. einzuschenken. Jugendschutzgesetz? Hahaha! Wie hieß das Zeug? Grün war es und hochprozentig. Und es haute unheimlich rein. Der Name, wie war der Name? Muss überlegen. Ich hab’s: Escorial grün.
Und es hatte, habe ich nachgelesen, satte 56 Schleifen. Nicht schlecht, ähnlich wie die legendäre Grüne Fee, die ich damals aber noch nicht kannte. Dementsprechend besoffen war ich auch. Ich kriegte nur noch mit, dass die beiden Jungs sich um mich stritten, natürlich ging es nicht um mich, sondern um so ein Männer-Ding.
Zwei Jahre vorher, bei Onkels Besuch bei uns in der Großstadt hatten wir uns verhalten wie Katz und Katz. Er versuchte, mich zu beherrschen, setzte sich auf mich und spuckte mich an, das Schwein! Eine sehr subtile Art, seine Zuneigung zu zeigen. Jedenfalls war ich froh, als das Lama weg war.
Und jetzt ist er wieder da, mein junger „Onkel“ – und ich kann nicht raus aus dem Klo, das Blut, es läuft nur so aus mir raus, aber wenn ich die neue Binde richtig herum unterlege, dann schaffe ich es vielleicht… Er klopft ein paar Mal, und ich gebe keine Antwort. Ich finde alles so peinlich, eigentlich will ich ihn doch sehen, aber es geht nicht.
Er aber geht, hat wohl keine Lust, noch länger zu warten vor einer Klotür, aus der nur Schweigen kommt. Kann ich gut verstehen.
Es war das vorletzte Mal, dass ich ihn gesehen, nein, nur gehört hatte.
Das letzte Mal, als ich ihn sah, war auf der Beerdigung eines richtigen Onkels von mir. Aber wir redeten nicht miteinander. Zuviel Zeit lag zwischen uns. Andere Verwandte erzählten mir, dass er lange schon verheiratet sei, dass seine Frau als Kind eine schlimme Akne gehabt hätte. Und dass sie zwei Kinder hätten.
Zwei Jahre später starb er mit fünfzig an einem Herzinfarkt.
Damals hätte ich ihn gerne noch einmal gesehen und auch mit ihm gesprochen. Aber diese falsche Verklemmtheit hat es verhindert.
Sie drückte mir ein paar dünne Teile in die Hand, sagte: „Leg das unter!“ – und: „Dein Vater hat es nie bei mir gesehen!“
So bekam ich auch gleich eine Einstellung dazu.
Dummerweise fuhren wir am gleichen Tag zu Besuch in die ferne Exheimat...
Ich sitze im Auto wie auf heißen Kohlen – oder wie auf dünnen Binden.
Bei einer Pinkelzwischenstation im Wald stelle ich fest, dass die Binde voll durchgeblutet ist. Ich schmeiße sie weg und leg mir eine neue "unter".
In der Heimat angekommen: Ich gehe sofort aufs Klo, ich blute immer noch wie ein abgestochenes Schwein, die Binde ist Kacke, ich fühle mich voll Scheiße, verdammt, hab’ ich sie falsch rum untergelegt? Oh ja, ich bin so dämlich! Es klopft, mein Onkel, er ist der Cousin meines Vaters und nur ein Jahr älter als ich, will mich sehen. Ich erinnere mich an seine Konfirmationsfeier vor einem Jahr, etwas Günes schwebt mir im Kopf herum:
Ich vierzehn Jahre alt in weißer Bluse und einem blauen Samtrock, den Mutter genäht hatte. Da war noch ein anderer Junge, ich will nicht sagen junger Mann, aber er war groß und zurückhaltend, also attraktiv. Da ich zu dieser Zeit immer die Schönste im Dorf war - vermutlich weil ich aus der Großstadt kam und weil sogar Zwerge in der Dämmerung lange Schatten werfen – zeigten sich die Jungs sehr interessiert an mir.
Also ging ich mit „Onkel“ und dem anderen Jungen, der übrigens auch aus dem Ruhrgebiet kam, in die Dorfkneipe. Sie lag schön versteckt hinter dem Haus, uneinsehbar und fast leer. Majestätisch stand die Wirtin Marianne hinter der Theke. Maid Marian – fast jeder im Dorf hatte einen Spitznamen – war genau das Gegenteil von dem, was man sich unter der zarten Geliebten von Robin Hood so vorstellte. Sie hatte eine Figur wie ein Fass, trug eine schlecht gemachte furchtbar krause Dauerwelle und hatte obendrein noch eine ausgesucht hässliche Brille auf der Nase, die ihr Spitzmausgesicht noch spitzmausiger machte und ihre Raubvogelaugen stark vergrößerte. Aber sie war eine nette Person, welche gerade ihren üppigen Operkörper über den Tresen gehängt hatte, um den bis dato einzigen Gast zu bezirzen. Seltsam, dass man sich an so Einzelheiten erinnern kann, während viel wichtigere Dinge einfach im Nirvana des Gehirns verschwunden sind.
Es wurde lustig. Maid Marian hatte keinerlei Bedenken, uns Schnaps aus- bzw. einzuschenken. Jugendschutzgesetz? Hahaha! Wie hieß das Zeug? Grün war es und hochprozentig. Und es haute unheimlich rein. Der Name, wie war der Name? Muss überlegen. Ich hab’s: Escorial grün.
Und es hatte, habe ich nachgelesen, satte 56 Schleifen. Nicht schlecht, ähnlich wie die legendäre Grüne Fee, die ich damals aber noch nicht kannte. Dementsprechend besoffen war ich auch. Ich kriegte nur noch mit, dass die beiden Jungs sich um mich stritten, natürlich ging es nicht um mich, sondern um so ein Männer-Ding.
Zwei Jahre vorher, bei Onkels Besuch bei uns in der Großstadt hatten wir uns verhalten wie Katz und Katz. Er versuchte, mich zu beherrschen, setzte sich auf mich und spuckte mich an, das Schwein! Eine sehr subtile Art, seine Zuneigung zu zeigen. Jedenfalls war ich froh, als das Lama weg war.
Und jetzt ist er wieder da, mein junger „Onkel“ – und ich kann nicht raus aus dem Klo, das Blut, es läuft nur so aus mir raus, aber wenn ich die neue Binde richtig herum unterlege, dann schaffe ich es vielleicht… Er klopft ein paar Mal, und ich gebe keine Antwort. Ich finde alles so peinlich, eigentlich will ich ihn doch sehen, aber es geht nicht.
Er aber geht, hat wohl keine Lust, noch länger zu warten vor einer Klotür, aus der nur Schweigen kommt. Kann ich gut verstehen.
Es war das vorletzte Mal, dass ich ihn gesehen, nein, nur gehört hatte.
Das letzte Mal, als ich ihn sah, war auf der Beerdigung eines richtigen Onkels von mir. Aber wir redeten nicht miteinander. Zuviel Zeit lag zwischen uns. Andere Verwandte erzählten mir, dass er lange schon verheiratet sei, dass seine Frau als Kind eine schlimme Akne gehabt hätte. Und dass sie zwei Kinder hätten.
Zwei Jahre später starb er mit fünfzig an einem Herzinfarkt.
Damals hätte ich ihn gerne noch einmal gesehen und auch mit ihm gesprochen. Aber diese falsche Verklemmtheit hat es verhindert.
Iggy - 10. Sep, 14:59
Sie
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